Die Gemäldesammlung
Matthäus hasste die sonntäglichen Familienausflüge zum Schloss Kyburg. Kürzlich acht Jahre alt geworden, verbrachte er seine Freizeit lieber mit seinem besten Freund, einem Hengstfohlen, das ihm sein Vater nach einem erfolgreichen Geschäftsabschluss gekauft hatte. Der Vater war schon früh durch geschickte Finanztransaktionen und seine Beteiligungen an der florierenden Winterthurer Tuchindustrie zu Reichtum gelangt. Seinen angesehenen Status in der vornehmen Gesellschaft hatte er sich dadurch gesichert, dass er die einzige Tochter eines einflussreichen adligen Geschäftspartners geheiratet hatte. Die Familie hatte in diesem Jahr, 1870, ein herrschaftliches Haus im Norden von Winterthur bezogen. Die Stadt gehörte seit einigen Jahren zu den wohlhabendsten Städten im Kanton Zürich.
Das Schloss Kyburg hatte der beste Freund von Matthäus’ Vater und sein Pate, nach dem er benannt war, in den 1860er Jahren gekauft. Oberleutnant Matthäus Pfau war damals wegen seiner angeschlagenen Gesundheit als Stadtrat von Winterthur zurückgetreten und hatte sich mit dem Kauf des Schlosses einen Traum erfüllt. Der jüngere Matthäus war seinem Paten sehr zugetan, weil er ihn mit spannenden Geschichten unterhielt, die er als junger Mann auf seinen Reisen in den Nahen Osten erlebt hatte. Doch seit Matthäus Pfau das Schloss gekauft und darin eine Gemäldesammlung angelegt hatte, war er wunderlich geworden. Er hatte kurz nach dem Kauf begonnen, seinem Patenkind gruselige Geschichten von den Grafen und Landvögten zu erzählen, die früher auf dem Schloss geherrscht hatten. Zuerst war der Knabe Feuer und Flamme gewesen, doch nach einer Weile erzählte der Pate immer dieselbe Geschichte. Sie handelte von einem Knaben, der zuvor auf dem Schloss gewohnt hatte und unter mysteriösen Umständen verschwunden war. Matthäus begann sich in der Gegenwart seines Paten immer mehr zu langweilen. Eines Abends hörte er seine Mutter zum Vater sagen, dass dessen Freund langsam verrückt werde. Sie fürchtete, er würde Matthäus und seinen jüngeren Bruder mit seinen Geistergeschichten ängstigen. Doch der Vater reagierte erbost und warf ihr vor, sie sei schon immer schlecht auf seinen angesehenen Freund zu sprechen gewesen. Die sonntäglichen Besuche auf dem Schloss blieben Programm.
An einem besonders trüben Sonntag machte sich die Familie auf, den Paten zu besuchen. Unter der Woche war die Kyburg von Leben erfüllt, da Matthäus Pfau selbst Führungen durch seine Gemäldesammlung veranstaltete. Doch an den Wochenenden legte sich eine trostlose Stimmung über das menschenleere Schloss, die noch durch das immer seltsamer werdende Verhalten des Paten verstärkt wurde. Doch der Pate bestand darauf, die Familie jeden Sonntag im Schloss zu Kaffee und Kuchen zu empfangen. Der Vater kam dieser Bitte gerne nach, für den Rest der Familie wurde der Besuch zur ungeliebten Pflicht.
Als Matthäus und seine Familie an diesem Sonntag beim Schloss anlangten, drückte schon allein das triste, graue Gemäuer auf ihre Stimmung. Die Stimmung des Paten war genauso düster, denn seine Frau war seit längerer Zeit auf Reisen und verzögerte ihre Rückkehr von Woche zu Woche. Der Schlossherr führte seinen Besuch in den Salon. Während sich die Männer über geschäftliche Dinge unterhielten und der Pate langsam bessere Laune bekam, assen die Kinder Kuchen und tranken heisse Schokolade, von der Mutter gelegentlich an ihre guten Manieren ermahnt. Matthäus wurde vom langen Sitzen unruhig und begann, auf dem Stuhl hin und her zu zappeln, während seinem jüngeren Bruder die Augen zufielen. Die Mutter bedeutete Matthäus mit strengem Blick sich zu benehmen und hob das schlafende Kind auf ihre Arme. Der Pate nickte ihr zu, den Jungen im Kinderzimmer nebenan hinzulegen. Matthäus nutzte die Gelegenheit und stahl sich davon. Er brannte darauf, sich das Gemälde anzuschauen, das seit einiger Zeit seine Neugier weckte.
Der Pate hatte ihm die schaurige Geschichte des auf einem nachtschwarzen Hengst abgebildeten Reiters erzählt. Dieser hatte im Mittelalter als Graf über die Kyburg geherrscht und seine Untertanen aufs Übelste behandelt. Er bürdete ihnen hohe Steuern auf und liess sie in bitterer Armut leben, während er das Geld für seine Feldzüge gegen rivalisierende Burgherren und für seine ausschweifenden Feste mit vollen Händen ausgab. Schliesslich versuchten die Untertanen die Burg zu stürmen, doch ihr Plan wurde verraten und der Graf rächte sich grausam an ihnen. Die Anführer des Aufstandes wurden gefangen genommen und im Burgverlies zu Tode gefoltert. Die Überlebenden zwang er zu noch härterer Fronarbeit. In dieser schlimmen Zeit überlebte wegen des Mangels an Nahrung kaum ein neugeborenes Kind. Als der Hebamme wieder ein Kind unter den Händen starb, packte sie ein fürchterlicher Zorn und sie verfluchte die Familie des Grafen. Die junge Frau des Grafen wurde danach mehrmals schwanger und gebar gesunde Kinder. Doch jeder geborene Knabe starb, bevor er vier Jahre alt war. Als der Graf wieder einmal in einen monatelangen Krieg mit seinen Nachbarn verstrickt war, erreichte ihn auf dem Schlachtfeld die Nachricht, dass sein dreijähriger Sohn schwer erkrankt war. Von schlimmen Ahnungen getrieben eilte er auf seinem Pferd der Kyburg zu, wo seine Frau mit dem Sohn im Arm zum Fenster herausschaute, ihren Mann verzweifelt erwartend. Diesen Moment hatte der unbekannte Maler auf dem Gemälde verewigt. Das besorgte Gesicht der Mutter und das des totkranken Knaben war auf dem Bild gut zu erkennen.
Die Geschichte war noch weiter gegangen. Lange nachdem die Familie des Grafen ausgestorben war, schien der Fluch noch immer zu wirken. Es geschah danach einige Male, dass ein Knabe, der noch nicht sein viertes Lebensjahr erreicht hatte, auf der Burg auf unerklärliche Weise verschwand. Die Leute im Dorf munkelten, dass der Geist der Grafenfrau aus Sehnsucht nach einem Sohn junge Knaben entführte.
Matthäus liebte es, sich das Gemälde anzuschauen und die gruselige Geschichte in seiner Fantasie auszuschmücken. Er war so in den Anblick des Bildes versunken, dass er die aufgeregten lauten Rufe seiner Mutter zuerst nicht wahrnahm. Dann tauchte sein Vater in der Gemäldegalerie auf und griff mit harter Hand nach ihm. «Welchen Unsinn hast du nun wieder angestellt? Wo ist dein Bruder?» Die Mutter hatte nach einer Weile nach seinem Bruder geschaut und das Kinderbett leer vorgefunden. Der Kleine war nirgends zu finden. Der Pate hatte bei dieser Nachricht nur traurig den Kopf geschüttelt und wirre Worte gesprochen.
Als der Vater merkte, dass Matthäus genauso überrascht vom Verschwinden des Bruders war, wandte er sich der Mutter zu und redete beruhigend auf sie ein: «Wir finden ihn. Vermutlich ist er aufgewacht und hat sich irgendwo versteckt.» Während die Eltern eilig die Gemäldegalerie verliessen, überlief es Matthäus heiss. Er schaute entsetzt zum Gemälde, wo im Schlossfenster sein kleiner Bruder im Arm der Grafenfrau zu sehen war.
Geschrieben von: Manuela Klemenz
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