Das Paket lag auf der hintersten Sitzreihe, unbemerkt, obwohl es in schimmerndes Goldpapier eingewickelt war. Charlotte sah es, als sich der Bus langsam leerte, es waren noch drei Stationen bis der, wo sie aussteigen musste. Das Päckchen war länglich und eine große rote Masche hing schlaff hinunter, so als ob sie nass geworden wäre.
Kein Wunder bei dem Wetter, dachte sie. Draußen war der Regen in dicke weiße Flocken übergegangen.
Charlotte stand auf und setzte sich auf den Sitz daneben, um es sich näher anzusehen. Ob sie es dem Busfahrer geben sollte es hieß doch immer, wenn man etwas Verdächtiges sah, sollte man es melden. Andererseits liebte Charlotte Weihnachten und Geschenke. Doch dieses Jahr würde Weihnachten nur ein paar freie Tage bedeuten. Das erste Mal seit Jahren war sie allein. Daniel war vor einem Monat ausgezogen.
Die rote Masche hatte dieselbe Farbe wie der Weihnachtsstern, den sie sich anstelle eines Tannenbäumchens gekauft hatte. Sie rutschte näher und berührte das schimmernde Goldpapier mit den Fingerspitzen, es fühlte sich kühl und glatt an. Sollte sie es einfach mitnehmen? Außer ihr waren nun nur noch zwei Teenager im Bus, sie sassen beide über ihre Handys gebeugt und beachteten Charlotte nicht.
Über das Mikrofon kündigte der Busfahrer die nächste Station an, die Teenager stiegen kichernd aus. Kaum draußen formte einer beiden aus dem Schnee auf dem Gratiszeitungskasten einen Schneeball. Als der Bus losfuhr, schoss er ihn ans Fenster, wo er mit einem lauten Knall an der Scheibe zersprang und nasse Spuren hinterließ. Charlotte zuckte zusammen und passte einen Augenblick lang nicht auf. In dem Moment stoppte, der Bus ruckartig und das Päckchen drohte vom Sitz zu fallen, reflexartig hielt sie es fest.
«Du Idiot, hast du keine Augen im Kopf», schrie der Busfahrer und hupte erneut, bevor er weiterfuhr. Charlotte setzte sich wieder gerade hin, das Päckchen in ihrer Hand. Es war nicht schwer, im Inneren spürte sie etwas hin-und her rollen. Bei der nächsten Station fuhr der Bus durch und dann mit einem Quietschen in die Endhaltestelle. Charlotte stieg aus und erst, als sie ein paar Schritte gegangen war, bemerkte sie, dass sie immer noch das Päckchen in der Hand hielt.
Unschlüssig blieb sie stehen, sollte sie zurückgehen? Doch der Busfahrer stand am Kiosk und sprach mit der Kioskbesitzerin. Sollte sie einfach zurückgehen und es wieder auf den Sitz legen?
Was aber, wenn es dann jemand einfach auf den Boden schmiss und die neuen Passagiere darauf herumtrampelten.
An Heiligabend zündete Charlotte die dicke Kerze, vom Weihnachtsmarkt an, die ihr eine Kundin im Geschäft geschenkt hatte. Vor ihr stand ein Teller mit Lachs und im Kühlschrank wartete ein Tiramisu. Auch wenn sie allein war, würde sie sich ein Festessen nicht entgehen lassen.
Zwei Stunden später, der Lachs, das Rindsfilet und das Tiramisu waren gegessen, lehnte sich Charlotte satt und zufrieden zurück. Das Päckchen, das sie vor ein paar Tagen im Bus gefunden hatte, lag mit einer frischgebundenen Masche vor ihr. Endlich würde sie wissen, was im Innern herumrollte. Sie hatte es in der Zwischenzeit immer wieder in den Händen gehalten und überlegte, was wohl darin war.
Langsam öffnete sie die Masche und die Klebestreifen, dann faltete sie das Papier zur Seite. Zum Vorschein kam eine einfache weiße Schachtel. Charlotte öffnete mit angehaltenem Atem den Deckel und schloss kurz die Augen. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und schaute, was sie sich quasi selbst zu Weihnachten geschenkt hatte.
In der Schachtel befand sich ein schlichter dunkelblauer Stift. Beinahe enttäuscht zog sie ihn aus der heraus und drehte den Deckel ab, es war ein Füllfederhalter mit einer goldenen Feder. Unter dem Füller lag ein kleines Kärtchen, auf dem in verschnörkelter Schrift stand «Wunsch-(er)-Füller».
Eigentlich glaubte sie nicht an solche Sachen, andererseits war es ja Weihnachten, vielleicht war es ein Versuch wert. Seit ihrer Schulzeit hatte sie nie mehr mit einem Füller geschrieben.
Charlotte stand auf und holte einen Schreibblock. Der Strich, der aus der Feder floss, war dünn und gleichmäßig. Fasziniert schaute sie zu, wie die dunkelblaue, feuchte Tinte zu trocknen begann und ihre Schrift so viel schöner aussehen ließ als mit einem gewöhnlichen Kugelschreiber geschrieben. Sie schrieb ihren Namen, machte Kringel und Kreise, dann riss sie das Blatt ab und begann zu schreiben. Sie schrieb und schrieb.
Als die Kirchenglocke zur Mitternachtsmesse schlug, legte sie den Füller beiseite.
Auf dem Tisch lagen ein Dutzend beschriebene Blätter. Ein Brief an Daniel. Noch in derselben Nacht brachte sie ihn zum Briefkasten, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Die Tage zwischen den Feiertagen vergingen, das alte Jahr verabschiedete sich und das Neue kam ohne ein Zeichen von Daniel. Kein Anruf, keine SMS, keine E-Mail, einfach nichts.
Charlotte war deshalb froh, als die Feiertage vorbei waren und sie wieder zur Arbeit konnte. Den Brief hatte sie inzwischen verdrängt. Wie immer war der Bus leer, als sie einstieg. Sie setzte sich auf ihren Stammplatz und starrte aus dem Fenster. Der Bus füllte und leerte sich. Kurz bevor sie aussteigen musste, ertönte es plötzlich neben ihr.
«Ist da noch frei?»
«Ja, genauso wie vermutlich der Rest vom Bus», erwiderte sie und ohne den Blick vom Fenster zu nehme.
«In deinem Brief hast du dir gewünscht, dass ich wieder immer neben dir sitzen soll.»
Erschrocken drehte Charlotte sich um. «Daniel? Du, wieso erst jetzt?»
Sie sah ihn an, er war blass.
«Die Grippe ... ich habe erst gestern den Briefkasten geleert, ich ...», er nieste.
«Aber wieso hast du nicht angerufen? Ich hätte ...»
Bevor er etwas erwidern konnte, tönte es aus dem Lautsprecher.
«Endhaltestelle! Bitte alle aussteigen.»
Erschrocken sahen beide auf.
Sie bemerkten nicht, wie der bärtige Busfahrer in den Rückspiegel schaute und lächelte. Es sah ganz so aus, als ob sein magischer Weihnachtsfüller wieder einmal jemandem einen Wunsch erfüllt hätte.
Geschrieben von: Monica Heinz
Webseite: www.monicaheinz.ch
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