Schreibwettbewerb - 1870 auf Schloss Kyburg
Wie liebt Matthäus Pfau diese abendlichen Rundgänge um und durch sein Schloss. Er tut es nicht eitel, aber mit geschwellter Brust. Zu Recht. Die von ihm veranlasste, aufwändige und kostspielige Sanierung hat das mittelalterliche Schloss Kyburg vor dem mutmasslichen Verfall gerettet und in neuem Glanz wieder erstehen lassen. Das eigentliche Bijou ist aber seine stattliche Gemäldesammlung, welche im Rittersaal und den anderen Räumen des Palas endlich ein angemessenes Zuhause erhalten hat.
Der kleinwüchsige Ragnar schälte in der Schlossküche der Kyburg Kartoffeln für das Abendmahl. Er war der Untertan des Schlossherrn Oberstleutnant Ulrich von Wagner. Eine Delegation aus dem Kanton Zürich war angemeldet, um die immense Gemäldesammlung des Schlossherrn zu bewundern. Einen Eimer voll Erdäpfel hatte Ragnar bereits fertig geschält und den zweiten Bottich auch schon zur Hälfte verarbeitet. Magd Margarete sass ihm gegenüber und rupfte währenddessen ein Huhn. Dabei schielte sie zu Ragnar hinüber und fragte entsetzt: «Ragnar, was hast du wieder für krumme Sachen gemacht? Die Spuren der Folter sind noch deutlich an deinen Armen zu erkennen.»
Kommissar Sebastian Stolz musste an ein Brauereipferd denken. Er folgte der Haushälterin durch einen der langen Flure von Schloss Kyburg. Während sie schnaufend vor ihm her walzte, wogte ihr beträchtlicher Hintern unter dem schwarzen Stoff der Dienstkleidung hin und her.
Stolz war gespannt auf Oberstleutnant Pfau. In der Stadt kursierten diverse Geschichten über den Mann. Der Witwer lebte seit sechs Jahren allein mit seinem Personal auf der Kyburg. Allerdings wurde gemunkelt, dass seine Frau nicht unter der Erde, sondern höchst lebendig an der Côte d’Azur bei einem reichen Franzosen weile.
Matthäus hasste die sonntäglichen Familienausflüge zum Schloss Kyburg. Kürzlich acht Jahre alt geworden, verbrachte er seine Freizeit lieber mit seinem besten Freund, einem Hengstfohlen, das ihm sein Vater nach einem erfolgreichen Geschäftsabschluss gekauft hatte. Der Vater war schon früh durch geschickte Finanztransaktionen und seine Beteiligungen an der florierenden Winterthurer Tuchindustrie zu Reichtum gelangt. Seinen angesehenen Status in der vornehmen Gesellschaft hatte er sich dadurch gesichert, dass er die einzige Tochter eines einflussreichen adligen Geschäftspartners geheiratet hatte. Die Familie hatte in diesem Jahr, 1870, ein herrschaftliches Haus im Norden von Winterthur bezogen. Die Stadt gehörte seit einigen Jahren zu den wohlhabendsten Städten im Kanton Zürich.
Das Bild war düster. Es zeigte eine verängstigte Frau in einem dunklen Raum, einem Kerker gleich, welcher sich im Hintergrund in der Schwärze verlor. Sie blickte dem Betrachter flehend entgegen. Angst und Verzweiflung lag in ihren Augen. Die Hände nach vorne gestreckt, als berühre sie ein Hindernis, das weder der Betrachter, noch sie zu sehen vermochten. Wo befand sich diese Frau? Wenn es ein Kerker war, wäre sie verdreckt und man würde sie in Lumpen gekleidet wähnen. Doch die Frau in dem Bild war ausserordentlich hübsch und gepflegt. Ihr blondes Haar war kunstvoll frisiert und hochgesteckt. Sie trug ein altmodisches, aber edles Abendkleid in violettem Ton mit schwarzer Spitze.